Zwei Euro im Schuh

Wie es ist, die Eltern zu verlieren oder die Familie zurückzulassen im Krieg – in ein fremdes Land gespült zu werden, in dem man nicht mal die Sprache spricht, kein Geld hat, keine Perspektive; zu sechzehnt untergebracht irgendwo auf dem Land, ohne Abwechslung, im Winter – ganz allein fertig werden zu müssen mit der Einsamkeit, der Zukunftsangst: Das kann ich mir kaum vorstellen. Die 16 Jungs zwischen 12 und 16, die seit ein paar Wochen in der Semliner „Biberburg“ leben, machen genau das durch. Was sie besitzen, tragen sie auf dem Leib oder haben es in kleinen Sporttaschen und Rucksäcken mitgebracht; Fußballschuhe – das zeigten die ersten Kickversuche auf frostigem Boden in Flipflops – Fußballschuhe gehören nicht dazu.

shoes2Da lässt sich was machen, dachten meine Frau und ich, und organisierten im kinderreichen Freundeskreis eine Sammlung gebrauchter Sportschuhe. Sonntag haben wir die Tasche voller Sneaker in der „Biberburg“ vorbeigebracht und uns über das erst zögernde, dann immer begeisterte Gewusel und Anprobieren gefreut.

Beim Wegfahren rannte dann plötzlich einer der kleinen Kerle aufgeregt hinter uns her. Sein Englisch war noch dürftig, aber in der ausgestreckten Hand hielt er hoch, um was es ihm ging: Ein Zwei-Euro-Stück, das er in einem der Schuhe gefunden hatte. Zwei Euro! Diesen unrechtmäßigen Besitz, das war für ihn offenbar selbstverständlich, musste er schleunigst zurückgeben. – Natürlich schenkten wir ihm die Münze. Aber das Erlebnis, dass da jemand ohne jeden eigenen Besitz, jemand wirklich komplett Mittelloses, Zukunftsloses – dass da ein syrischer Flüchtlingsjunge die Ehrlichkeit über die eigene Not stellte – dieses Erlebnis wirkte auf der Rückfahrt von der „Biberburg“ noch lange in uns nach.